Sonntag, 13. März 2011

Buchvorstellung - "Der Zeitzug" (Katharina Bachman)

Heute möchten wir uns zunächst einmal ganz lieb bei Sternenzauber bedanken, dass sie uns so lieb unter den Lesern auf ihrem Blog Willkommen geheissen hat. Der Beitrag, in welchem dies geschah, hat uns an ein kürzlich gelesenes Buch von Katharina Bachman erinnert: „Der Zeitzug“.
Wir schreiben das Jahr 1990. Intercity 337, auf dem Weg von Hannover nach Zürich und zu diversen Zwischenhalten, fährt in der Nähe von Mannheim wie geplant in einen Tunnel ein – und verschwindet dort spurlos. Sechs Jahre später sind viele der Insassen für tot erklärt worden, der Hausstand von alleinstehenden Passagieren wurde längst aufgelöst, Ehepartner haben sich inzwischen neu verheiratet, Familien sind umgezogen… als der Zug plötzlich aus dem Tunnel fährt. Dass inzwischen sechs Jahre vergangen sind, ist an den Passagieren gänzlich vorbeigegangen: für sie war die Fahrt von normaler Dauer; so ist beispielsweise auch niemand gealtert; und laut ihren Aussagen haben sie sich auch nur wenige Minuten im Tunnel befunden. Das Wiederauftauchen des Zuges ist für sämtliche an den (damaligen) Ermittlungen Beteiligte ein Schock und niemand weiss, wie man hier reagieren soll, und bis sich alle darüber im Klaren sind, dass  IC 337 tatsächlich wieder da ist (als der „Tunnelwart“ die Meldung durchgab, dass der Zug just aus dem Tunnel gekommen sei, war man verständlicherweise zunächst der Meinung, der Herr werde senil oder erlaube sich zumindest einen makabren Scherz während der Dienstzeit), hat dieser bereits die nächsten Zwischenhalte erreicht und die ersten Passagiere ausgespien. Diese wähnen sich immer noch im Jahre 1990, schimpfen teils zunächst über ihre Angehörigen und Freunde, die sie entgegen aller Abmachungen doch nicht am Bahnhof erwarten,  machen sich allein auf den Heimweg und entdecken spätestens an der eigenen Haustür, dass irgendetwas nicht stimmt.

„Der Zeitzug“ konzentriert sich auf einige wenige Passagiere und beschäftigt sich in erster Linie mit den Veränderungen in ihrem Leben und wie die Betroffenen damit umgehen. Im Mittelpunkt steht hier besonders die junge Jessica, die zu ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter heimzukommen meint, nachdem sie kurze Zeit beruflich in Berlin verbracht hatte, wo sie als Maskenbildnerin gearbeitet hatte. Bei ihrer Rückkehr stellt sie zunächst den Wegzug ihrer Familie fest und stösst letztlich nicht nur auf einen gereifteren Mann, sondern vor Allem auch auf eine Tochter, die keine echte Erinnerung mehr an ihre Mutter hat und sich bestens an das Leben, nur mit ihrem Vater gemeinsam, arrangiert hat. Sie betrachtet Jessica eher als Eindringling und so entsteht hier auch gleich zu Beginn eine deutliche, von Eifersucht geprägte, Konkurrenzsituation. So beginnt für Jessica gänzlich unerwartet ein Kampf um ihre eigene Familie.

Andere Zuginsassen resignieren angesichts der veränderten Lebensumstande schnell gänzlich, können das Trauma eines Zeitsprunges von sechs Jahren überhaupt nicht verwinden, so dass sich doch auch einige Passagiere später für den Freitod entscheiden.

In einer Nebenlinie wird noch geschildert, wie eine Journalistin eines weltweiten Nachrichtensenders nach und nach den Grund für das zeitweilige Verschwinden des Zuges entdeckt, wobei die Autorin des Romans den Lesern diese Auflösung bereits auf den ersten Seiten in direkt präsentiert – sie erwähnt es nicht explizit, aber der Präsentierteller ist einfach zu schön arrangiert und demonstrativ platziert als dass man es so einfach überlesen könnte.


(Aufgrund der schlechten Lesbarkeit auf dem Foto - Bildmaterial: © zaubervogel /pixelio)

„Der Zeitzug“ wird gemeinhin als „Thriller“ klassifiziert; wir sehen ihn eher als psychologisch-philosophisches Drama, da er sich, wie beschrieben, mehr mit der persönlichen Situation einiger Passagiere und deren Verhalten beschäftigt und doch auch nachdenklich macht: kann man sich vorstellen, mit so einer Situation fertigzuwerden; ist die Idee von Zeitreisen nicht eher gefährlich als erstrebenswert? Nach dem Lesen beschäftigt man sich auch intensiver mit der eigenen Lage: bin ich mit dem Hier und Jetzt zufrieden, würde ich gerne einfach sechs Jahre später „aufwachen“ und wenn ja, was würde ich an meiner momentanen Situation ändern wollen? Und wenn ich das doch weiss, warum mache ich es denn nicht? So gesehen ist „Der Zeitzug“ auch ein durchaus inspiratives Werk.

Der Roman hat sicherlich Längen: so wirkt es eher irreal, dass man den Zug tatsächlich weiterfahren und die Insassen unvorbereitet heimgehen lassen hat anstatt den Intercity – auch mitten auf der Strecke – stoppen zu lassen und die Passagiere unter „Quarantäne“ zu stellen. Andererseits zeigt diese Vorgehensweise einfach, dass es immer Situationen gibt und auch geben wird, auf die man sich einfach nicht vorbereiten kann und vor denen man dann erstmal wie der Ochs vom Berge steht und ihnen eher ungläubig begegnet: wer rechnet schon damit, dass ein Zug in einem einfachen Tunnel verschwinden und dann auch noch sechs Jahre später völlig unvermittelt wieder daraus auftauchen kann? Das Ganze erinnert hier an einen Koma-Patienten, dessen Zustand von sämtlichen Medizinern als unveränderlich bezeichnet wird, und der nach sechs Jahren plötzlich wie ein junger Springinsfeld aus dem Bett hopst und meint, nur ein kurzes Schläfchen gehalten zu haben.

Eine Besonderheit dieses Romans liegt allerdings darin, dass die Geschichte zwar Anfang 1990 einsetzt, „Der Zeitzug“ aber bereits Mitte der 1980er von einem Schweizer Verlag erstmals veröffentlicht wurde (heute ist der Roman über bod beziehbar): im Roman existiert die innerdeutsche Grenze im März 1990 noch, aber in den sechs Jahren, die der Zug verschwunden war, unterzog sich nicht nur das gesamte persönliche Umfeld der Passagiere grossen Veränderungen, sondern die Autorin beschrieb hier auch weitreichende globale Veränderungen – wie die Öffnung der Grenzen. „Der Zeitzug“ entpuppte sich im Nachhinein also als tatsächlicher Blick in die Zukunft; dies ist besonders beeindruckend, wenn man die 80er Jahre bewusst erlebt oder zumindest ausreichend Wissen um sie und die damalige politische Lage besitzt. Ansonsten werden einen die beschriebenen Veränderungen in der Weltpolitik und auch im Umgang mit der Umwelt etc. eher schnell langweilen, weil man sich doch fragen könnte: „Hey, ich lebe in dieser Welt; warum wird mir nun mehr oder minder erzählt, wies hier jetzt ausschaut?“ (Einige der im Buch beschriebenen Umbrüche sind – noch – nicht eingetreten.)

„Der Zeitzug“ ist sehr knackig geschrieben, ohne grosse Abschweifungen und ohne zig Nebenstränge, die sich letztlich nur als Füllsel entpuppen. Mit 214 Seiten (exklusive Anhang) ist das Taschenbuch zudem eher dünn, vor Allem, da auch eine etwas grössere Schriftgrösse gewählt wurde. „Der Zeitzug“ ist vor Allem von geübten Lesern also auch sehr schnell ausgelesen; auf der homepage der Autorin findet sich weiterhin eine kurze Leseprobe
  
Lediglich wer unter einer Tunnelphobie leidet, sollte diesen Roman wohl doch besser meiden – die Geschichte eines Zuges, der für sechs Jahre in einem solchen verloren geht, schürt solche Ängste wohl noch mehr (der Tunnel im Roman ist übrigens rein fiktiv, auch wenn es um Mannheim herum durchaus mal einen Tunnel gibt, den deutsch-schweizerische Züge auf ihren Fahrten tatsächlich durchqueren). Aber falls ihr mal in einem Zug sitzt, der durch einen Tunnel fährt, wobei ein Mitfahrer nach Verlassen des Tunnels „Sechs Jahre später!“ bemerkt, wisst ihr, welchen Roman jener sicherlich kennt. 

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